11.

 

Okay, hat eine von euch diese Prophezeiung jemals wirklich gelesen?«, fragte Kate, als sie auf dem Weg zu Irene über den Bürgersteig liefen. Der Nebel war dicht und hatte sich wie eine schwere Decke über dem Meer und dem größten Teil des Städtchens ausgebreitet. »Ich habe mich nämlich eingehend damit befasst und sie verheißt für uns alle nichts Gutes.«

»Das gefällt mir gar nicht«, sagte Hannah. »Vielleicht sollten wir dich besser nicht fragen, was genau dort geschrieben steht. Kann Unwissenheit uns schützen?«

»Welche Prophezeiung?«, erkundigte sich Damon gespannt. Sie hatten den Morgen alle gemeinsam verbracht und beim Frühstück hatten die Schwestern ihn so gnadenlos geneckt, dass Sarah errötet war und ihr Gesicht an seiner Brust verborgen hatte. Dennoch – oder vielleicht gerade deswegen – fühlte er sich in die Familie aufgenommen und dieses Gefühl war für ihn von unschätzbarem Wert.

Sarah lachte schadenfroh. »Ihr fandet es alle so komisch, als mir das passiert ist, aber ich hatte den vollständigen Text der Prophezeiung gelesen. Ich weiß, was jetzt auf euch alle zukommt. Ihr werdet eine nach der anderen umkippen wie Dominosteine.«

Abbey schnitt Sarah eine Grimasse. »Nicht alle, Sarah. Ich glaube nicht an Vorbestimmung,«

Die anderen Mädchen lachten schallend. Sarah nahm Damon verstohlen an der Hand. »Die Prophezeiung ist dieser grässliche Fluch, der auf den sieben Schwestern lastet. Das heißt, wir haben es bisher für einen Fluch gehalten. Seit ich dir begegnet bin, bin ich mir da nicht mehr ganz so sicher.«

Seine Augenbrauen schossen in die Höhe. »Jetzt habt ihr mich wirklich neugierig gemacht. Betrifft mich diese Prophezeiung in irgendeiner Weise?«

Die vier Frauen brachen wieder in Gelächter aus. Auf der Straße drehten sich Passanten nach ihnen um. »Du bist die Prophezeiung, Damon«, sagte Kate. »Das Tor hat sich für dich geöffnet.«

Sarah gab ihm eine kurze Zusammenfassung dessen, was in der Prophezeiung stand. »Sieben Schwestern, die eng miteinander verbunden sind, herrschen über die Elemente Luft, Land und Meer und trachten ihrem Schicksal zu entfliehen, aber ihr Los wird sie ereilen, eine nach der anderen, von der Ältesten bis hin zur Jüngsten. Wenn das Tor beim Nahen eines Gastes freudig aufschwingt, wird die erste Schwester ihre wahre Liebe finden. Da steht noch viel mehr, aber im Grunde genommen geht es so weiter, dass nämlich sämtliche Schwestern eine nach der anderen heiraten werden.«

Sarahs drei Schwestern murrten abfällig und schüttelten die Köpfe. Damon lachte schallend. »Dann musst du mich also heiraten, stimmt's? Und ich hatte mich schon gefragt, wie ich es hinkriegen soll, dich zu behalten, aber dir bleibt ja gar nichts anderes übrig. Diese Prophezeiung gefällt mir. Sagt sie vielleicht zufällig auch noch etwas darüber aus, dass du mich rund um die Uhr bedienen sollst?«

»Ganz und gar nicht«, erwiderte Sarah und funkelte ihre lachenden Schwestern finster an. »Macht ruhig so weiter, denn ihr alle, sogar du, Abbey, werdet es noch erleben, dass ich mich über euch lustig mache.« Sie schloss ihre Finger enger um Damons Hand. »In unserer Jugend haben wir alle miteinander einen Pakt geschlossen. Wir haben vereinbart, ein Vorhängeschloss am Tor anzubringen und uns nie auf eine ernsthafte Beziehung einzulassen, damit wir ein unabhängiges und freies Leben führen können. Unser Zusammenleben hat uns immer gut gefallen ... und dann auch noch die arme Elle - der Gedanke an sieben Töchter ist reichlich beängstigend.«

»Dem Himmel sei Dank, dass Elle all diese Kinder bekommt«, sagte Abbey. »Ich werde nur ein Kind haben und auch das nur, weil ihr mir andernfalls alle auf die Nerven gehen werdet.«

»Warum muss Elle die sieben Töchter gebären?«, fragte Damon.

»Die siebente Tochter muss immer sieben Töchter gebären«, erklärte Kate. »So verhält es sich schon seit Generationen. Ich habe die Geschichte der Drake-Familie gelesen und all den Einträgen, die sich dort finden, entnommen, dass unsere Ahninnen durchweg glückliche Ehen geführt haben.« Sie lächelte Damon an. »Bisher bin ich auf nichts gestoßen, was darauf hinweist, dass der Mann rund um die Uhr bedient werden soll, aber ich werde die Augen danach offen halten.«

»Wenn du schon dabei bist, könntest du dann vielleicht auch gleich nachsehen, ob die herkömmliche Regelung erwähnt wird, wonach die Frau dem Ehemann Gehorsam zu leisten hat?«, fragte Damon. »Ich war immer der Meinung, das sei das entscheidende Wort beim Trauungszeremoniell. Andernfalls hat der Mann doch überhaupt keine Chance.«

»Träum schön weiter«, sagte Sarah. »Dazu wird es niemals kommen. Jetzt zeigt sich, welche Probleme es mit sich bringt, wenn man sein ganzes Leben weltabgeschieden in einem stickigen Labor verbracht hat. Die Wahnvorstellungen scheinen früher einzusetzen als bei anderen Menschen.«

Sie kamen an einem gepflegten kleinen Häuschen mit einem großen Garten hinter einem weißen Lattenzaun vorbei. Ein älteres Paar nahm gerade einen Brunnen in Betrieb, der mitten in einem Blumenbeet stand. Sarah blieb abrupt stehen. Dann drehte sie sich zu dem Haus und zu dem Paar im Garten um. Ein Schatten glitt über das Dach. Es schien, als nähme man verschwommen etwas wahr, das im nächsten Moment wieder im Nebel verschwand. »Ich bin gleich wieder da.« Sie winkte dem älteren Paar zu und beide richteten sich sofort auf und kamen an den Zaun.

Sarahs Schwestern sahen einander voller Unbehagen an. Damon folgte Sarah. »Es ist nicht unbedingt erforderlich, dass du dich mit jedem einzelnen Einwohner dieser Stadt unterhältst.« Er richtete diesen Ratschlag an Sarahs Rücken. Sie ignorierte seine Bemerkung jedoch und knüpfte ein Gespräch mit dem älteren Paar an. Damon seufzte. Er hatte das Gefühl, er würde für den Rest seines Lebens hinter Sarah herlaufen und sich mit jedem unterhalten, dem sie auf der Straße begegneten.

»Na, so was, Sarah, ich hatte schon gehört, dass du zurückgekommen bist. Ist alles in Ordnung? Wie lange habe ich dich nicht mehr gesehen? Sind es schon zwei Jahre?« Die ältere Frau winkte Sarahs Schwestern zu, während sie mit ihr sprach.

»Mrs. Darden, ich habe gerade Ihren Garten bewundert. Haben Sie Ihr Haus kürzlich umgebaut?«

Die Dardens sahen einander an, ehe sie sich Sarah wieder zuwandten. Mr. Darden räusperte sich. »Ja, Sarah, wir haben im Wohnzimmer und in der Küche Umbauten vorgenommen. Wir haben etwas Geld geerbt und wir wollten das Haus schon immer besser instand setzen. Jetzt ist alles genau so, wie wir es haben wollen.«

»Das ist ja wunderbar.« Sarah rieb sich den Nacken und blickte zum Dach auf. »Ich sehe dort einige Leitern stehen. Decken Sie das Dach neu?«

»Es ist undicht, Sarah. Im Winter hat es reingeregnet«, sagte Mr. Darden. »Vor sechs Monaten ist uns ein Baum eingegangen und ein Ast ist auf das Haus gefallen. Seitdem haben wir Schwierigkeiten damit.«

»Es sieht so aus, als wollten Sie die Reparaturen selbst vornehmen«, bemerkte Sarah und rieb sich ein zweites Mal den Nacken.

Damon streckte eine Hand aus, um sie mit sanften Fingern zu massieren. Die ungeheure Anspannung, die er in ihrem Nacken und in ihren Schultern fühlen konnte, ließ ihn verstummen. Und rätseln.

»Ich habe gehört, dass Lance ein ganz ausgezeichneter Dachdecker ist, Mr. Darden. Er arbeitet schnell und er gibt eine Garantie auf seine Arbeit. Dann bräuchten Sie nicht selbst auf dem Dach herumzuklettern und Zeit darauf zu vergeuden. Sie könnten sich stattdessen der Gartenarbeit widmen.« Sie wandte ihren Kopf zu Damon um. »Mr. Darden hat sich als Gärtner einen Namen gemacht. Für seine Rosen gewinnt er jedes Jahr einen Preis.«

Damon konnte Schatten in Sarahs Augen sehen. Er lächelte sie an und beugte sich vor, um ihr einen zarten Kuss aufs Haar zu hauchen, als sie sich wieder an die Dardens wandte. »Lance könnte die Arbeit sicher gebrauchen und Sie täten ihm einen so großen Gefallen damit.«

Mrs. Darden zog an der Hand ihres Mannes. »Danke, Sarah, das ist ein guter Rat. Genau das werden wir tun. Es hat mir ohnehin schon Sorgen bereitet, dass Clyde dort oben auf dem Dach herumklettert, aber...« Sie ließ ihren Satz abreißen.

»Ich glaube, du hast recht, Sarah«, stimmte Mr. Darden ihr plötzlich zu. »Ich glaube, ich rufe Lance jetzt gleich an.«

Sarah zuckte mit einstudierter Lässigkeit die Achseln, doch Damon spürte, dass ihre Schultern vor Erleichterung herabsackten. »Ich kann es kaum erwarten, Ihre Beiträge zur diesjährigen Gartenschau zu sehen. Ich wollte Ihnen Damon Wilder vorstellen, einen Freund von mir. Er hat das alte Hanover-Haus gekauft.« Sie lächelte Damon an, um ihn in das Gespräch miteinzubeziehen. »Ich weiß, dass Sie sich häufig in Ihrem zauberhaften Garten aufhalten. Sind Ihnen zufällig Fremde aufgefallen, die lästige Fragen stellen oder Ihnen sonst irgendwie nicht ganz geheuer vorkamen?«

Die Dardens sahen einander an. »Nein, Sarah, uns ist niemand aufgefallen«, antwortete Mrs. Darden, »aber wir kümmern uns grundsätzlich nur um unsere eigenen Angelegenheiten. Du weißt ja, dass ich noch nie etwas davon gehalten habe, meine Nase in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken.«

»Es ist nur so, dass ich mir dachte, da Sie so viel draußen arbeiten, könnten Sie vielleicht die Augen für mich offen halten und mir Bescheid geben, wenn Ihnen etwas verdächtig vorkommt«, sagte Sarah.

»Du kannst dich auf uns verlassen, Sarah«, sagte Mr. Darden. »Ich habe mir gerade ein neues Fernglas gekauft, und wenn ich auf der Veranda vor dem Haus sitze, kann ich die ganze Straße gut überblicken.«

»Danke, Mr. Darden«, sagte Sarah. »Das wäre wundervoll. Wir sind gerade auf dem Weg zu Irene und Drew.«

Das Lächeln verblasste auf Mrs. Dardens Gesicht. »Oh, es ist ja so furchtbar traurig, Sarah. Ich hoffe, ihr könnt ihnen helfen? Wann kommt Libby nach Hause? Sie wäre eine so große Hilfe. Wie geht es ihr überhaupt?«

»Libby ist im Moment im Ausland, Mrs. Darden«, sagte Sarah. »Es geht ihr gut. Hoffentlich gelingt es ihr, auch bald nach Hause zu kommen. Ich werde ihr ausrichten, dass Sie sich nach ihr erkundigt haben.«

»Ich habe die schreckliche Neuigkeit über Donna gehört«, fuhr Mrs. Darden fort. »Haben diese Fremden etwas mit dem Überfall auf sie zu tun? Ich habe gehört, du hättest auf einen von ihnen geschossen. Ich halte im Allgemeinen nichts von Gewalttätigkeit, Sarah, das weißt du ja, aber ich hoffe, du hast genug Schaden angerichtet, damit er es sich das nächste Mal genauer überlegt, bevor er wieder eine Frau angreift.«

»Donna wird bald wieder auf den Beinen sein«, beteuerte ihr Sarah. »Und ich habe nicht auf ihn geschossen.«

Mrs. Darden tätschelte Sarahs Schulter. »Schon gut, meine Liebe. Ich verstehe es ja.«

Sarah wandte sich mit einem munteren Winken ab. Die Schwestern brachen in unbändiges Gelächter aus. Damon schüttelte ungläubig den Kopf. »Sie glaubt, du hast auf diesen Mann geschossen. Selbst jetzt noch, nachdem du es abgestritten hast, glaubt sie, dass du auf ihn geschossen hast.«

»Stimmt.« Sarah warf ihm einen stählernen Blick zu. »Sie glaubt aber auch, dass mich jemand übers Wasser laufen gesehen hat. Ich frage mich, wer dieses Gerücht wohl in Umlauf gesetzt haben könnte.«

Hannah zog ausgelassen an Damons Ärmel. Für ihre Begriffe war das eine Geste, in der sich klare Zuneigung ausdrückte. »Das war ein guter Einfall, Damon. Ich wünschte, ich hätte ihn gehabt.«

Kate warf den Kopf zurück und lachte. Die leichte Brise ließ ihre wüste Mähne um sie herumflattern. »Einfach zum Schreien, diese Idee. Und du solltest erst mal hören, was sich die Leute über dich erzählen. Es wird gemunkelt, du seist ein berühmter Zauberer, bei dem Sarah in die Lehre gegangen ist.«

»Also wirklich«, wandte Sarah ein. »Sie hätten wenigstens sagen können, er sei bei mir in die Lehre gegangen. Ich schwöre es euch, selbst in unserem Jahrhundert treibt der Chauvinismus noch seine Blüten.«

Damon fühlte sich unglaublich wohl. Er empfand sich als Teil der Familie. In diesen Kreis war er aufgenommen worden, inmitten des Gelächters und der Kameradschaftlichkeit. Er fühlte sich nicht mehr als außenstehender Beobachter wie die meiste Zeit seines Lebens. Sarahs Schwestern schienen ihn bereitwillig zu akzeptieren und ihm nicht nur in ihrem Leben, sondern sogar in ihrem Herzen einen Platz einzuräumen. Toleranz und Akzeptanz schienen wesentliche Merkmale von Sarahs Familie zu sein. Plötzlich ging ihm auf, dass er trotz der Bedrohung, die ihn immer noch umgab, weniger an das Trauma der Vergangenheit, sondern mehr an die Gegenwart und die Zukunft dachte als seit Monaten.

»Ich glaube, es gefällt mir, dass die Leute mich für einen Zauberer halten«, sagte Damon versonnen.

»Sarah sagt, du bist ein großer Denker.« Kate winkte Jonas Harrington zu, als er in seinem Streifenwagen an ihnen vorbeifuhr.

»Was tust du da?«, zischte Hannah und schlug Kate auf die Hand. »Sei bloß nicht nett zu diesem Idioten. Wir sollten dafür sorgen, dass er in den Straßengraben fährt.«

»Wage es bloß nicht«, sagte Sarah streng zu ihrer Schwester. »Es ist mein Ernst, Hannah. Du darfst deine Gaben nicht dafür einsetzen, Rache zu üben. Nur für gute Zwecke. Gerade jetzt ist das besonders wichtig.«

»Es würde doch einem guten Zweck dienen«, hob Hannah hervor. »Es würde diesem grässlichen Mann Manieren beibringen. Seht bloß nicht hin. Und du, Damon, hör auf, ihn anzulächeln. Wir wollen schließlich nicht, dass er anhält, um mit uns zu plaudern.« Ein verstimmtes Murren stieg aus ihrer Kehle auf, als der Streifenwagen vor ihnen an den Randstein fuhr. »Seht ihr jetzt, was ihr angerichtet habt?« Sie riss ihre Hände in die Luft, als Harrington aus seinem Wagen stieg. Eine plötzlich aufkommende Böe wehte den Hut von seinem Kopf und ließ ihn im Rinnstein davonrollen.

»Sehr komisch, Babypüppchen«, sagte Harrington. »Du hast es wohl mal wieder nötig anzugeben, stimmt's? Ich vermute, dein hübsches Frätzchen bekommt nicht die gebührende Aufmerksamkeit.«

Kate und Sarah legten beide eine Hand auf Hannahs Arm, um sie zurückzuhalten. Sarah schob sich zwischen den Sheriff und ihre Schwester. »Hast du etwas aus deinem Gefangenen herausgebekommen, Jonas?« Ihre Stimme klang freundlich, wenn auch äußerst zurückhaltend.

Jonas bedachte Hannah weiterhin mit einem eisigen Blick. »Nicht allzu viel, Sarah, und die beiden anderen Männer, die sich nach deinen Angaben in der Nacht auf Wilders Grundstück herumgetrieben haben, konnten wir bisher auch noch nicht aufspüren. Du hättest mich anrufen sollen, statt allein auf sie loszugehen.«

Hannah schien protestieren zu wollen. Damon konnte den leisen Schauer sehen, der ihren Körper beben ließ, aber ihre Schwestern rückten fürsorglich näher zu ihr und sie beruhigte sich wieder.

»Ja, genau das werde ich nächstes Mal tun, Jonas: Ich werde die Männer, die ihre Waffen auf das Fenster gerichtet haben und sich an das Haus heranschleichen, in Ruhe lassen und mich auf die Suche nach einer Telefonzelle machen, um dich anzurufen. Diese verfluchten Handys scheinen an der Küste nämlich die meiste Zeit nicht zu funktionieren, so ist es doch?« Sarah untermalte ihren Sarkasmus mit einem Lächeln. »Nächstes Mal werde ich also auf die Klippe hinausfahren und dich anrufen, bevor ich mir die Männer im Alleingang vornehme.«

Jonas ließ Hannahs Gesicht nicht aus den Augen. »Tu das, Sarah.« Er stemmte seine Fäuste in die Hüften. »Ist eine von euch auch nur auf den Gedanken gekommen, es könnte Sarah das Leben kosten? Oder habt ihr euch überlegt, wie mir zumute gewesen wäre, wenn ich ihre Leiche gefunden hätte? Oder wenn ich mich gezwungen sähe, zu euch zu fahren und euch mitzuteilen, dass sie tot ist? Darüber habe ich mir nämlich letzte Nacht eine Menge Gedanken gemacht.«

»Ich habe auch darüber nachgedacht«, sagte Damon. »Beziehungsweise habe ich mir zumindest Gedanken darüber gemacht, dass Sarah meinetwegen hätte tot sein können.« Er streckte eine Hand aus und legte seine Finger schützend auf ihren Nacken. »Diese Vorstellung hat mir einen teuflischen Schrecken eingejagt.«

Kate und Abbey tauschten Blicke mit Hannah aus. »Daran habe ich überhaupt nicht gedacht«, gab Kate zu. »Keinen Moment lang.«

»Herzlichen Dank, Jonas«, sagte Sarah. »Jetzt werden sie mir alle damit auf die Nerven gehen, dass ich den Beruf wechseln soll. Ich bin nun einmal Sicherheitsexpertin.«

»Das finde ich zwar immer noch besser, als eine Barbie-Puppe zu sein, aber du musstest es natürlich gleich wieder übertreiben, Sarah«, erwiderte Jonas. »Du hättest zum Beispiel auch Bibliothekarin werden können, das wäre doch mal ein netter Beruf.«

Hannah biss die Zähne zusammen, sagte aber immer noch kein Wort. Der Wind strömte durch die Straße und wehte den Hut des Sheriffs zu einem Flutkanal. Dort landete er in einer dunklen Pfütze und verschwand aus der Sicht.

Harrington fluchte tonlos und stolzierte zu seinem Wagen zurück. Seine Schultern waren steif vor Empörung.

»Hannah«, schalt Kate sie behutsam aus, »das war nicht nett von dir.«

»Das war ich doch gar nicht«, protestierte Hannah. »Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich diese Eiche entwurzelt, damit sie ihn erschlägt und er mit den Füßen voran im Erdboden versinkt.«

Abbey und Kate sahen Sarah an. Sie zog lediglich die Augenbrauen hoch. »Ich glaube, Irene und Drew erwarten uns bereits.«

Damon lachte laut los. »Ich sehe schon, dass ich euch ständig im Auge behalten muss.« Warum kam es ihm vollkommen normal vor, dass die Drake-Schwestern den Wind befehligen konnten? Sogar Harrington ging mit diesem Phänomen um, als wäre es ganz alltäglich.

Sie blieben vor Irenes Haus stehen. Damon konnte sehen, dass sämtliche Frauen die Schultern kampfbereit zurückzogen. »Sarah, was glaubst du für Drew tun zu können? Seine Krankheit kannst du doch gewiss nicht heilen.«

Traurigkeit schlich sich in ihre Augen ein. »Nein. Ich wünschte, ich besäße diese Gabe. Libby ist diejenige, die wahre Heilkräfte besitzt. Ich habe sie schon Wunder vollbringen sehen. Aber es laugt sie restlos aus und uns behagt oft nicht, dass sie es tut. Es hat immer seinen Preis, Damon, wenn man eine Gabe einsetzt.«

»Dann beschwört ihr also keinen Zauber mit Kröten und Drachenleber herauf?«, meinte es halb ernst und halb im Scherz. Er konnte sie sich mühelos auf Besenstielen vorstellen, auf denen sie durch den Nachthimmel flogen.

»Tjaaa...« Abbey zog das Wort in die Länge und sah schelmisch von einer Schwester zur anderen. »Das können wir durchaus und wir tun es auch, wenn die Situation es erfordert. Die Drakes haben über Jahrhunderte Rezepte und Zauberformeln an nachwachsende Generationen überliefert. Wir ziehen es aber vor, die Kräfte einzusetzen, die wir in uns tragen, wobei Zauberei und Beschwörungen nicht zwangsläufig gegen die Vorschriften verstoßen.«

»Mir erlaubt ihr es nie«, nörgelte Hannah.

»Nein, und wir werden es dir auch nie erlauben«, sagte Sarah mit fester Stimme. »Aber um deine Frage zu beantworten, Damon, wir hoffen, dass wir uns ein klares Bild von der Lage machen können und dass es uns vielleicht gelingt, etwas mehr Zeit für Drew herauszuschinden. Wenn es um seine Lebensqualität wirklich schlecht bestellt ist, ziehen wir es vor, nicht einzugreifen. Wozu sollte es gut sein, sein Leiden unnötig zu verlängern? In dem Fall werden wir ihm nach Kräften Linderung verschaffen und die Natur ihren Lauf nehmen lassen.«

»Glaubt Irene, dass ihr ihn heilen könnt?«, fragte Damon, der sich plötzlich Sorgen machte. Ihm wurde jetzt erst klar, was für eine furchtbare Verantwortung die Drakes trugen. Die Einwohner des Städtchens waren an ihre absonderlichen Gaben gewohnt und glaubten, sie könnten Wunder vollbringen.

»Sie will es unbedingt glauben. Wenn Libby und meine anderen Schwestern hier wären, könnten wir ihm alle gemeinsam unter Umständen eine wirkliche Hilfe sein, aber so können wir den Gang der Dinge nur verlangsamen und ihm etwas mehr Zeit verschaffen. Wir müssen herausfinden, was Drew will, und das kann nur er selbst uns sagen. Du wirst Irene ablenken müssen. Bringe sie dazu, dass sie in die Küche geht und frische Limonade für uns zubereitet oder ihre berühmten Plätzchen backt. Sie wird außer sich vor Sorge sein, Damon, und daher wirst du dich wirklich ins Zeug legen müssen. Wir brauchen Zeit mit Drew.«

Seine Augen wurden schmaler, als er Sarahs ernstes Gesicht musterte. »Was ist mit dir und deinen Schwestern? Werdet ihr anschließend krank sein wie beim letzten Mal?«

»Nur dann, wenn wir unsere Gaben für ihn einsetzen«, sagte Sarah. »Dann weiß ich allerdings nicht, wie du uns alle nach Hause bringen könntest. Du wirst Irene bitten müssen, uns zurückzufahren.«

»Wir hätten daran denken sollen, den Wagen mitzunehmen«, stimmte Kate ihr zu. »Glaubt ihr, das ist ein schlechtes Omen? Vielleicht gibt es nichts mehr, was wir für ihn tun können.«

»So etwas darfst du gar nicht erst denken, Kate«, schalt Abbey sie aus. »Wir alle gehen liebend gern spazieren und es macht Spaß, zusammen zu sein. Wir schaffen das. Wenn wir Glück haben, können wir Drews Leben verlängern, bis Libby nach Hause kommt.«

»Kommt Libby denn zurück?«, fragte Damon.

»Ich weiß es nicht, Damon«, sagte Hannah und zog die Augenbrauen hoch. »Das liegt jetzt wohl eher an dir, oder etwa nicht?«

»Weshalb sollte es an mir liegen?«

»Ich dachte, du hättest gesagt, er sei einer der klügsten Männer auf dem ganzen Planeten«, zog Kate Sarah auf. »Hast du nicht ein streng geheimes Abwehrsystem ausgeklügelt, Damon?«

Damon sah erst die Frauen und dann Sarah finster an. »Wenn ich das getan hätte und wenn es streng geheim wäre, dann wüsste niemand etwas davon, oder?«

Hannah lachte. »Sei nicht sauer, Damon, Sarah hat es uns nicht erzählt. Was eine von uns weiß, überträgt sich gewissermaßen auch auf die anderen. Ich kann dir nicht erklären, wie das funktioniert, nur, dass es uns allen so geht. Solche Informationen hätte sie niemals weitergegeben, noch nicht einmal an uns. Es geschieht von selbst. Und keine von uns würde jemals ein Wort darüber verlieren, das heißt«, sagte sie ausweichend, »außer um dich damit aufzuziehen.«

»Und warum liegt es an mir, ob Libby nach Hause kommt oder nicht?«

»Sie kommt bestimmt nach Hause, wenn eine Hochzeit stattfindet«, hob Kate mit einem breiten Grinsen hervor.

Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK
titlepage.xhtml
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_000.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_001.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_002.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_003.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_004.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_005.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_006.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_007.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_008.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_009.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_010.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_011.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_012.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_013.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_014.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_015.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_016.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_017.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_018.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_019.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_020.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_021.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_022.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_023.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_024.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_025.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_026.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_027.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_028.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_029.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_030.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_031.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_032.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_033.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_034.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_035.htm
Drake Schwestern 01-02 - Daemmerung des Herzens-06.07.12-OK_split_036.htm